• 07.06.2004 13:23

  • von Fabian Hust

Die Geheimnisse der Formel-1-Bremsen

Kaum eine Strecke belastet die Bremsen so wie Montreal: Der Renault-Chefingenieur blickt detailliert hinter die Kulissen

(Motorsport-Total.com) - Der 'Gilles Villeneuve Circuit' gehört zu den so genannten Bremsen-"Mörder"-Strecken. Die zahlreichen Geraden der Strecke, die durch Schikanen oder Haarnadelkurven unterbrochen werden, sind gefürchtet, denn mit der limitierten Dicke der Bremsscheiben geraten die Teams im Rennen, in dem die Autos durch das Mehrgewicht an Sprit zahlreiche Runden schwer unterwegs sind, an das Limit und nicht selten auch darüber hinaus.

Titel-Bild zur News: McLaren-Bremse

Rauchende Bremsen signalisieren den Oxidations-Prozess

In Formel-1-Autos kommen Bremsen aus Kohlefaser zum Einsatz, die extreme Bremsmanöver ermöglichen. Diese Materialien finden auch in Militärflugzeugen und einigen modernen Passagierjets Verwendung: "Ein typischer PKW verwendet Stahlbremsen mit einem organischen Bremsbelag", erklärt Pat Symonds, Chefingenieur bei RenaultF1. "In der Formel 1 wird dasselbe Material jedoch sowohl für die Scheibe als auch für den Bremsbelag verwendet. Dieses Material ist als Kohlefaser bekannt und unterscheidet sich stark von der Kohlefaser, die in anderen Bereich des Autos verwendet werden."#w1#

Extreme Verzögerung für extrem viel Geld

Kohlefaser besteht aus Kohlenstoff, ist extrem leicht und bietet bei der richtigen Temperatur einen extrem hohen Reibungskoeffizienten von 0,6, wohingegen herkömmliche Materialien einen Wert von 0,3 erreichen: "Die Herstellung von Karbonscheiben ist ein langwieriger Prozess, der hunderte von Stunden dauert", erklärt Symonds. "Dabei werden die Materialien auf 2.500 Grad erhitzt." Somit ist klar, warum ein Satz Bremsen rund 4.500 Euro kostet und ein Satz Bremsbeläge mit 2.400 Euro zu Buche schlägt. Im Jahr verwendet ein Team über 200 Bremsscheiben und doppelt so viele Bremsbeläge...

Wenn das Renault-Team die Bremsleistung einstellt, so drehen sich die Überlegungen dabei vor allem um zwei Parameter: Den "Biss" der Bremse und die Konstanz. "Unter dem 'Biss' versteht man die anfängliche Reibung, die ein Fahrer spürt, wenn er das Bremspedal tritt und die Bremsen noch nicht auf der richtigen Betriebstemperatur sind", so Symonds. "Die Konstanz beschreibt die Reibung, wie sie während der Bremsperiode auftritt."

Oxidation ist der Bremse größter Feind

"Eine Kohlefaserbremse hat eine sehr schwache Wirkung unter einer Temperatur von 400 Grad und erreicht die optimale Bremsleistung bei Temperaturen von über 650 Grad. Leider leidet eine Kohlefaserbremse nicht nur wie eine konventionelle Bremse durch die übliche Abnutzung, die eine Reibung mit sich bringt, sondern auch durch einen Prozess, den man Oxidation nennt."

"Oxidation ist einfach gesprochen die Verbrennung der Oberfläche der Scheibe. Diese wird bei Temperaturen von über 600 Grad beschleunigt und wird zur Hauptursache der Abnutzung. Wenn man bedenkt, dass die Temperaturen bei einem Bremsmanöver Temperaturen von rund 1.200 Grad erreichen, kann man sehen, dass die Oxidation einen sehr bedeutenden Anteil an der Abnutzung ausmacht."

Die Temperatur muss stimmen

"Auf den Geraden leiten die Bremskühlöffnungen Luft in die Bremsen und sie werden so unter die Oxidations-Temperatur abgekühlt, aber da sie diese Temperaturen noch für eine ziemlich lange Zeit haben, kommt es zu dem Paradoxon, dass die viele Luft, die verwendet wird, um sie zu kühlen, aufgrund der großen Menge an Sauerstoff den Abnutzungsprozess beschleunigt."

Die notwendige Kühlung der Bremsen ist abhängig von den Strecken und wird erzielt, indem der Fahrtwind durch Löcher, die sich in den Bremsscheiben befinden, über die Scheibe und die Bremsbeläge geleitet wird: "Man verwendet verschieden große Kühlöffnungen und auf Kursen wie Montreal, wo sehr stark gebremst wird, verwenden wir die größte Öffnung der Saison", erklärt der Renault-Chefingenieur."

Die Kühlung der Bremsen kostet Top-Speed

"Wenn wir von der kleinsten zur größten Öffnung wechseln, dann kostet uns das 1,5 Prozent an aerodynamischer Effizienz, was einen Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit ausmacht", verrät Symonds. "Es ist aber nicht nur eine Frage der Aerodynamik-Ziele: Kleinere Öffnungen werden auf Strecken verwendet, die weniger Bremsleistung erfordern, um die Temperaturen der Bremsen zu kontrollieren und die richtige Balance zwischen hoher Bremsleistung und akzeptabler Abnutzung zu finden."

Welten liegen zwischen einem F1 und einem PKW

Am meisten sind Formel-1-Debütanten von der Bremsleistung der Formel-1-Autos beeindruckt und das ist auch kein Wunder: "Ein modernes Formel-1-Auto kann beim Bremsen 5,5 g erreichen, wohingegen ein Hochleistungs-PKW vielleicht nicht einmal 1 g erreichen wird. Hinzu kommt, dass Formel-1-Autos keine Bremskraftverstärker benutzen, sodass die Fahrer das Pedal extrem hart drücken müssen, um den Bremsdruck (bis zu 100 bar) aufbauen zu können."

Ein sensibler Bremsfuß ist das A und O

Hinzu kommt, dass der Umgang mit den Bremsen nicht ganz trivial ist, wie Symonds erklärt: "Wenn die Bremsen bei 330 km/h zum ersten Mal angetippt werden, dann baut das Auto natürlich noch viel Abtrieb auf und aus diesem Grund ist es nicht möglich, die Räder zu blockieren. Wenn das Auto jedoch langsamer wird, dann ist der Abtrieb nicht mehr da, somit nimmt die Reifenhaftung ab und auch die Bremsen beginnen, optimal zu wirken." Somit kommt es auf den Fahrer an, die Bremskraft so zu dosieren, dass optimal ohne blockierende Bremsen abgebremst wird.

"Ein Rennfahrer wird zudem tief in eine Kurve hineinbremsen, um seine Rundenzeiten zu reduzieren. Wenn auf das Auto Brems- und Fliehkräfte einwirken, dann ist es ein Leichtes, das innere Vorderrad zu blockieren. Das würde dazu führen, dass das Auto untersteuert und man den Scheitelpunkt verpasst. Der Fahrer muss also die Bremskraft dosieren, um dies zu verhindern. Interessant ist auch anzumerken, dass ein Formel-1-Auto den 2,5-fachen Luftwiderstand eines PKW hat und dies dazu führen kann, dass wenn man bei vollem Speed vom Gas geht, Verzögerungskräfte von 1 g auftreten."

Der Kompromiss muss stimmen

In Kanada ist es die große Herausforderung, optimale Bremsleistung - die also von der Aerodynamik abhängig ist - und optimale aerodynamische Effizienz abzuwägen: "Wenn man wenig Abtrieb am Auto hat, dann wird es beim Bremsen nervös, das ist aber genau das, was ein Fahrer nicht möchte. Wenn man diese Herausforderung sowohl als Sicht des Ingenieurs als auch aus der Sicht des Fahrers in den Griff bekommt, dann ist dies einer der Schlüssel zu einem erfolgreichen Wochenende in Montreal."